Samstag, 20. Dezember 2008

Die Retter der Melancholie



Konzertkritik. Tomte zelebrieren große Gefühle im Colos-Saal


Manchmal ertappt man sich wieder in so einer Phase seines Lebens, in der man glaubt abgestumpft zu sein. Angst davor hat gefühlskalt und emotionslos zu werden. Wenn der berufliche Stress die Überhand gewinnt oder Alltagssorgen das Leben bestimmen. Erkennt man das früh genug und hat gleichzeitig dazu noch einen Hang zu guter deutscher Gitarrenmusik mit intelligenten Texten, dann sollte man ein Tomte-Konzert besuchen. Am vergangenen Freitag versammelten sich zahlreiche Indie-Anhänger und Deutsch-Pop-Publikum im Colos-Saal um Deutschlands Vorzeige-Indie-Rockband zu feiern, und mit ihnen in einem großen Bad der Gefühle zu schwimmen. Schon vom ersten Ton an, glaubt man Frontmann Thees Uhlmann sein ganzes Leben lang zu kennen. Hunderte Fans stimmen mit ihm den Eröffnungssong „Heureka“ aus dem Album an, und man spürt genau, dass es an diesem Abend ein leichtes Spiel für die sympathische Band auf der Bühne sein wird. Jeder Song wird mit offenen Armen (und Herzen) empfangen und aus munteren Kehlen mitgesungen. Selten hat man sich so mit einer Band und ihrem Protagonisten identifizieren können, selten hat man so kollektiv mit dem Publikum gelitten, gelächelt und getanzt. Tomte spielen an diesem Abend gefühlte tausend Lieder und ein Querbeet-Programm ihrer Schaffenszeit. Der Fokus liegt dennoch auf den aktuellen Werken „Buchstaben über der Stadt“ und „Heureka“. Und wenn Uhlmann mal einen Akkord daneben greift, sich für unlustige Witze entschuldigt und Anekdoten aus dem Leben, wie vorteilhaft eine Nasendusche sein kann, erzählt, glaubt man alles was man über den bodenständigen Indie-Papst liest und hört. Wer sich mit der intensiven Musik und den vertieften Strophen beschäftigt, erkennt einfach mehr als einen handelsüblichen Rocksong. Es steckt so viel mehr darin. Liebe zum Detail zum Beispiel. Und Message. Appelle an eine melancholische Generation, geleitet von verträumter intellektueller Musik. Lieder über Freundschaft und Liebe, oder dem schwermütigen Dasein in schwierigen Lebensabschnitten. Wenn eine Band Songtitel entwirft, wie „Es gibt nichts Schöneres auf der Welt als betrunken traurige Musik zu hören“, bedarf es keiner weiteren Erklärung. Im Publikum kullert die ein oder andere Träne, Männercliquen singen Textzeile für Textzeile in den Armen und verliebte Pärchen zelebrieren ihr glückliches Dasein bei einem innigen Kuss. Auf der Bühne zappelt Uhlmann mit seinen Mitstreitern um die Wette, wirkt hektisch, euphorisiert. Man glaubt ihm jedes Wort und leidet mit ihm mit, wenn er mit seiner Band nach der dritten (!) Zugabe wieder auf die Bühne kommt und Textzeilen wie „Weißt du was du mir bedeutest, in einem Platz auf meinem Herz“ in die Menge feuert. Textzeilen die sich wunderbar für Liebes-SMS oder Liebeskummerbriefe eignen. Es ist ein großartiges Konzert, und jeder wünscht sich es würde ewig so weitergehen. Nach über zwei Stunden ist dann Schluss und die Fans sind wieder allein mit ihrer Melancholie. Naja, so ganz allein natürlich nicht. Die Tomte-Platten stehen sortiert im Plattenschrank und ihre omnipräsente Musik berührt ein Leben lang.



Sonntag, 7. Dezember 2008

Zwischen Zimt, Lebkuchen und Mandarinen...

...liegt das Elend. Schaut nur genau hin. Ihr seit doch mittendrin.

Irgendwann haben wir die Erotik verlernt, denkt sie sich, während tausende von Samen weiße Gemälde auf ihr Gesicht projezieren.
Irgendwann haben wir die Erotik verlernt, denkt er sich, während er beim Abspritzen an seine Tochter denkt. Lisa, die ihm einen bläst, müsste in etwa in ihrem Alter sein. Zarte unschuldige 17 - und dann doch so versaut. Er hat sie auf dem Weihnachtsmarkt kennengelernt. Zwischen Glühweihnstand und Kastanienduft. Sie sah so unschuldig aus mit ihrer roten Mütze und ihrem treudoofen Gesichtsausdruck. Während er für seine Frau ein Lebkuchenherz kaufte, dachte er an spontanen Sex mit diesem kleinen Engel. Seine Geschäftsreise nach München würde morgen enden, warum sich nicht nach all der harten Arbeit noch einwenig Spaß gönnen.
Geschenke für die kleinen, hatte er schließlich bereits eingekauft. Die Verträge sind unterschrieben. Die Millionen sicher. Erfolg auf ganzer Linie. Ein Gewinnertyp. Und auch wenn er in einigen Monaten die 50 erreichen wird, hat er noch lange nichts von seinem Charme eingebußt. So wie früher, als er die kleinen dummen Gören in seinem Dorf in den Wald gelockt und vergewaltigt hat. Natürlich unter dem Vorwand des Alkohols. Schließlich war das alles abgesprochen. Wie jedes Weihnachten... .
Als er sie ansprach, roch sie nach frisch-geschälten Orangen. Die blinkenden Lichter des Weihnachtsmarktes zeichneten ihren goldbraunen Teint perfekt nach. Mit ihrem Lächeln konnte sie Weltkriege entscheiden. Sie war mit Freundinnen hier. Diese hätten sich aber mit einigen oberflächlichen Mackern vergnügt und seien jetzt in einem Club ganz in der Nähe. Sie wolle noch etwas auf dem Markt herumschlendern, bis ihre Abreise beginnt.
Er fühlte sich erinnert. Damals. Als kleiner Junge. Als für ihn Weihnachten die ganze Welt bedeutet hat. Als er seine erste ferngesteuerte Eisenbahn im Wohnzimmer anschließen durfte, und sein Vater ausnahmsweise auch mal lächeln konnte, wenn sein jüngster Sohn dankend seine Geschenke auspackte. Er erinnerte sich an Mutters Plätzchen und den harmonischen Duft in der Kinderstube. Wohlbehütet. Geborgen. Vergessen.
Für einen Bruchteil einer Sekunde, hätte er das Vorhaben abgebrochen. Doch was sind schon Erinnerungen gegen Triebe? Beide lauern in den fiefsten Synapsen des Gehirns, doch nur Triebe können sich bis zur Oberflächlichkeit durchsteuern und geben erst Ruhe, wenn sie befriedigt sind.

Während Lisa noch gedankenverloren von ihrem Abend erzählte, drückte er ihr mit seinem Wolfsblick 200 Euro in die Hände. "Gönn dir mal was schönes..." , hatte er gesagt. Wenige Blicke, sein After-Shave und die richtigen Sätze zur richtigen Zeit haben ihm schon immer dahin gebracht, wo er jetzt ist.
Zurück im Hotel verschonte er Lisa auch mit dieser ganzen Anti-Helden Theatralik. Ersparte ihr schlechten Gin aus der Minibar, überließ ihr die Initiative und war eigentlich ganz zufrieden damit, dass es ihn ganze 13 Minuten Überwindungskunst gekostet hat, diesen bildhübschen Engel mit in sein Zimmer zu nehmen. Ihr goldenes Haar war zu einem Zopf nach hinten gebunden. Ihre scharfen Wangenknochen skizzierten ein überdurchschnittlich-attraktives Wesen. Sie war die Unschuld. Doch in ihr war die Unschuld längst gestorben.

Während sie blies, dachte sie an Marc. Noch nie hatte sie einen Kerl so sehr geliebt wie ihn. Doch nachdem er in die Bedeutungslosigkeit abgedriftet war, schlechte Drogen konsumierte und seine Lebensbiographie mit belanglosen Charts-Partys zu Ende geschrieben wurde, wusste sie genau, dass sie dem ganzen entfliehen musste. Sie hatte sich erst zweimal prostituiert. Und sie hat es beide Male nicht bereut. Bei diesem charmanten älteren Herren musste sie einfach zuschlagen. Sie wusste genau, dass er bei seiner Frau keinen mehr hochkriegen konnte. Es war dennoch keine Verachtung, sondern ein leiser perverser Kick in ihrem Kopf. Als ihre Leidenschaft nicht mehr glühte. Als ihre Träume die grauen Wolken nicht mehr verdrängen konnten. Da war sie sich sicher. Mein Leben ist mehr wert als die Durchschnittlichkeit.
Sie schluckte also seinen Samen, reagierte gekonnt auf die hektischen Zuckungen seines Gliedes. Sie genoss es, während er die Augen schloss und in höhere Welten katapultiert wurde. Alles war positiv. Alles war schön. Später ein Glühwein um das nikotinschmeckende Sperma zu neutralisieren. Er zog sie in seine Arme. Gab ihr Wärme, die nicht ihr galt.

Zwei Körper zerstören die Unschuld. Ausgebrochen aus der Fassade. Getränkt in die Vernunft des Sex, der sie hätte elektrisieren sollen... .
Es beginnt zu schneien. Die Kirchturmuhr schlägt elfmal. Noch zwei Tage bis Heiligabend.
"Hier ist ein Spekulatius"
"Danke der Herr"
Und während beide das Elend fortsetzen, singen draußen die Kinder das Lied vom heiligen Jesus - der gekommen war, um die Menschen von dem Bösen zu erlösen.